Th. Großbölting: Der verlorene Himmel

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Titel
Der verlorene Himmel. Titel Der verlorene Himmel.


Autor(en)
Großbölting, Thomas
Erschienen
Göttingen 2013: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Andreas Henkelmann

Die Religions- und Kirchengeschichte der BRD erlebt seit einiger Zeit einen bemerkenswerten Aufbruch. Mit Thomas Großböltings Der verlorene Himmel liegt nun die erste große Synthese vor, die die vorliegenden Forschungen in anregender Weise aufgreift und auf die aktuellen Diskussionen um den Platz von Religion in der Gesellschaft perspektiviert. Ausgangspunkt der ambitionierten Arbeit ist ein für den Verf. offensichtlicher Wandel, nämlich eine «wohl unwiederbringliche» (18) Entflechtung von Religion und Gesellschaft und damit verbunden ein Bedeutungsverlust der Kirchen sowie eine Pluralisierung des religiösen Feldes. Daraus ergibt sich das Ziel der Studie, nämlich diesen Wandel aus historischer Perspektive für Deutschland von 1945 bis in die Gegenwart zu erklären. Mit diesem Anspruch distanziert sich Verf. ausdrücklich «von der bekannten kirchen- und konfessionsgeschichtlichen Einbahnstraße» (14). Stattdessen geht es darum, eine Religionsgeschichte «aller Formen von Religiosität und ihrer Organisation» (ebd.) aus ihrer gesellschaftlichen Kontextualisierung zu entfalten.

Um dieses Ziel zu erreichen, unterliegen alle Hauptkapitel dem gleichen Zugriff. In einem ersten Abschnitt wird das individuelle Glaubensleben untersucht: «Wie eigneten sich Einzelne wie auch Gruppen Transzendenzvorstellungen an, welche Wirkung zeitigte das?» (19). Im Mittelpunkt des jeweiligen zweiten Unterkapitels stehen der Gesellschafts- und damit auch der Politikbezug. «Wie wurde Religion in der Gesellschaft definiert?» (ebd.). In einem dritten Schritt untersucht Verf. den innerkirchlichen Wandel: «Die Religionsgemeinschaften in Deutschland waren beileibe nicht nur Objekte dieses Wandels, sondern haben selbst eine bemerkenswerte Entwicklung durchgemacht» (20).

Die chronologischen Schnitte, die Verf. zur zeitlichen Abgrenzung seiner drei Kapitel vornimmt, folgen den bekannten Bahnen. Auf die unmittelbare Nachkriegszeit und die 1950er Jahre folgen die sechziger und siebziger Jahre als eigene Zeiteinheit. Im Schlusskapitel zieht Verf. dann den Bogen bis in die Gegenwart. Inhaltlich steht im ersten Kapitel die Hoffnung auf eine Rechristianisierung im Mittelpunkt. Diese Hoffnung entpuppte sich allerdings als Chimäre. Das Ende der Volkskirchen war so etwa bereits in den 1950er Jahren absehbar, wie Verf. nicht zuletzt an der Erosion der Jugendverbände deutlich herausarbeitet. Die beiden darauf folgenden Jahrzehnte sieht Verf. als die eigentliche Wendezeit an, da sich zum einen innergesellschaftlich eine deutliche Emanzipation von Religion, in der Studie be-sonders pointiert am Thema Schwangerschaftsabbruch herausgearbeitet, zeigt, zum anderen sich aber auch innerkirchlich Glaubensinhalte, Mentalitäten und Strukturen transformierten. Das dritte Kapitel trägt die prägnante, aber auch etwas missverständlichen Überschrift «Aus Kirche wird Religion». Was gemeint ist, ist klar: Das religiöse Feld differenziert sich weiter aus. Erstmals finden die Nicht-Religiösen und der Islam ausführlich Berücksichtigung. Allerdings lässt der Verf. entgegen der Ankündigung in der Überschrift die Kirchen dann doch nicht vollständig in Religion aufgehen, sondern erläutert auch in diesem Kapitel ihre jeweiligen Konflikte und Pluralisierungsprozesse.

Abschließend bezieht Verf. seine Ergebnisse auf die aktuellen Diskussionen um den Ort der Religion in der deutschen Gesellschaft und kommt dabei zu bemerkenswerten Thesen. Die enge Verbindung zwischen Staat sowie Gesellschaft und den beiden Großkirchen sieht Verf. so in Frage gestellt. Aus der Perspektive der Kirchen habe als Folge der Verflechtung eine «Versorgungsmentalität» «den begeisternden Impuls der christlichen Botschaft eher verblassen lassen» (268). Aus der Perspektive des Staates sieht Verf. keinen Grund mehr für eine privilegierte Stellung ausschließlich der Großkirchen, da sehr viel stärker die Interessen anderer Religionsgemeinschaften sowie der Nicht-Religiösen zu berücksichtigen sind. Unabhängig davon, wie man zu diesen Thesen steht: Großbölting löst damit die in der Einleitung gegebene Ankündigung ein, seine Studie als «Problemgeschichte der Gegenwart» (die Formulierung übernimmt er von Hans Günter Hockerts) zu verstehen, und zieht sich nicht in das sichere Schneckenhaus einer positivistischen Faktensammlerei zurück. Genau darin liegt auch der besondere Reiz der Studie.

Will man der Studie gerecht werden, ist festzuhalten, dass Verf. mit einer Fülle von komplexen methodischen Herausforderungen zu kämpfen hatte. Auf zumindest zwei Kernprobleme sei hier hingewiesen. Das Buch zeichnet sich durch den Anspruch aus, nicht die Geschichte einer Konfession, sondern eine Religionsgeschichte zu schreiben. Das ist ein großer Anspruch und zu Recht ist bereits in einigen Rezensionen kritisiert worden, dass das Bild des Protestantismus aber auch der Nichtreligiösen an einigen Stellen unscharf bleibt. Das tiefer liegende Problem ist aber, wie man eine gemeinsame Geschichte der verschiedenen religiösen Akteure schreiben kann, ohne ihre Eigengeschichte im Erzählstrom untergehen zu lassen. Mit Blick auf dieses Problem fällt die Bilanz für die Studie gemischt aus: An einigen Stellen gelingt es Verf., die Balance zwischen gemeinsamer und eigener Geschichte zu wahren (z.B. im Abschnitt über das Verhältnis der Kirchen zur Politik während der 1950er Jahre), in anderen Abschnitten dagegen nicht (z.B. die Ausführungen in 3.2 zum «Ende der ‹Priesterkirche›»).

Ein zweites Problem sind die großen Argumentationslinien. Verkürzt gesagt las-sen sich aktuell zwei Narrative beobachten. Auf der einen Seite wird in einem Niedergangsszenario ein deutlicher Relevanzverlust von Religion und v.a. der Großkirchen betont. Die Gegenseite hebt dagegen sehr viel stärker den Wandel hervor. Wie positioniert sich nun Verf.? Der Titel «Der verlorene Himmel» verspricht Klarheit, und für eine solche Klarheit stehen auch Thesen wie «From Church to Choice» oder «Von der Kirche zur Religion». Allerdings zieht Verf. die Linie nicht kohärent durch, will er doch explizit auch den innerkirchlichen Wandel untersuchen. Das Buch verweist in dieser Unschärfe auf ein tiefer liegendes Problem, nämlich wie sich Wandel und Abbruch argumentativ zusammenfügen lassen. Dabei zeigt sich eine zweite Schwierigkeit, nämlich die Frage des Bewertungsrahmens. Der Studie gelingt es nämlich an einigen Stellen nicht, Transformationsprozesse zu fassen, weil die Handlungslogiken der religiösen Akteure auch in den Kapiteln über die Zeit nach 1960 immer wieder an denen des katholischen Milieus festgemacht werden. Eine These wie «From Church to Choice» überzeugt deshalb nicht, weil unberücksichtigt bleibt, warum in einer individuellen Wahl auch weiterhin Kirche bei einer bestimmten Anzahl von Menschen eine Rolle gespielt hat bzw. spielt (unabhängig davon wäre auch stärker zu diskutieren, dass sich Menschen vor der Erosion der Volkskirchen bewusst für diese entschieden).

Will man ein Fazit erstellen, bleibt festzuhalten, dass Der verlorene Himmel nicht nur einen ersten, sondern auch einen erst-lassigen Entwurf einer Religionsgeschichte der BRD darstellt. Das Buch zeigt als «Problemgeschichte der Gegenwart» die Stärken historischen Denkens auf. Sein Gewinn liegt nicht zuletzt auch darin, dass es auf methodische Probleme hinweist und so wichtige Impulse für weitere Forschungsarbeiten gibt.

Zitierweise:
Andreas Henkelmann: Rezension zu Thomas Großbölting, Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, Vandenhoeck&Ruprecht, Göttingen 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 108, 2014, S. 524-526.